22 Nov 2024

Neue Haptik, neue Welt?

Schwe­den schafft das Bar­geld ab. Glaubt man Niklas Arvids­son, Pro­fes­sor am Roy­al Insti­tu­te of Tech­no­lo­gy in Stock­holm, gibt es ab dem 24. März 2023 kei­ne schwe­di­schen Kro­nen mehr. Weil Händ­ler zuneh­mend kei­ne Schei­ne und Mün­zen mehr anneh­men, spielt Bar­geld spä­tes­tens in fünf Jah­ren kei­ne Rol­le mehr, meint Arvidsson.

Allein die Vorstellung: Geld wird irgendwann so ein Relikt aus der Vergangenheit sein, wie Telefone mit Wählscheibe oder Röhrenfernseher. Komisch, verbinden wir doch mit der Haptik des Geldes so viele positive Erinnerungen: das erste Mal mit dem eigenen Taschengeld im Kiosk Süßigkeiten kaufen, die Magie fremder Scheine im Urlaub (was ja inzwischen zumindest innerhalb Europas auch schon obsolet geworden ist).

Nachladen statt anzünden

Sich mal abends in der Bar vom Kumpel zwanzig Euro zu leihen, ist dann nicht mehr. Zumindest nicht mehr so, wie wir es gewohnt sind. Per PayPal  wird das Geld dann mal eben mobil überwiesen. Real wird digital: Das Ergebnis ist das gleiche, nur die Übermittlung ist anders.

Noch so ein Ding mit der veränderten Haptik: das Rauchen. „Hast du mal Feuer?“, hört man immer weniger. E-Zigaretten werden zunehmend beliebter, aber fragt man sein Gegenüber nach einem entsprechenden Ladegerät, hat das doch eine andere Wirkung, als die jahrhundertalte Frage nach dem Feuer, die ja nicht selten auch Einstieg in einen Flirt ist.

Versteht man wie Historikerin Sandra Schürmann das Zigarettenrauchen als „Sozialtechnik“, so ändert sich mit der Verbreitung der E-Zigarette etwas in unserem Sozialverhalten. Findet doch mit der herkömmlichen Zigarette eine Kontaktaufnahme über das Produkt selber statt (neben „Hast du mal Feuer?“ ja auch das klassische „Schnorren“: „Hast du mal eine Zigarette für mich?“), die mit dem neuen Produkt E-Zigarette wegfällt. Das Rauchverhalten ändert sich und damit auch die gesellschaftliche Interaktion und die persönliche Kommunikation. Oder ist es andersherum? Ändert sich die Gesellschaft und somit auch die Art, wie und was wir rauchen?

Analog wird digital

Schauen wir auf andere Bereiche des öffentlichen Lebens, wird deutlich, dass es die neuartigen Entwicklungen und Erfindungen sind, die Verhalten und Lebensweise der Menschen ändern und beeinflussen: E-Mails statt Briefe, Netflix statt Fernsehen, Tinder statt Ausgehen. Analog wird digital, aber – und es ist ein großes „Aber“, denn wenn wir von gesellschaftlichen Veränderungen durch neuartige Produkte sprechen, dürfen wir eins nicht vergessen: Die meisten „alten“ Dinge sind ja immer noch da und haben durchaus ihre Daseinsberechtigung. Eine große Nutzerschaft gibt ihnen Recht. Also, analog wird digital, aber die Gesellschaft wird dadurch nicht ausgetauscht, sie verändert sich nur.

Die Zigarette als Spiegelbild der Gesellschaft

Und so verhält es sich auch mit der Entwicklung des Rauchens: Der E-Zigaretten-Konsum nimmt zu, der Absatz herkömmlicher Zigaretten geht zurück, das steht fest. „Als Produkt musste sich die Zigarette immer wieder neu erfinden“, schreibt Sandra Schümann[1]. „Sie war und ist ein äußerst wandlungsfähiges Spiegelbild dynamischer Gesellschaften. Deshalb scheint es fraglich, ob das 21. Jahrhundert den Niedergang der konventionellen Zigaretten erleben wird. Steht ihr Ende tatsächlich bevor oder erfindet sie sich gerade neu, indem sie sich zur womöglich ähnlich wirkenden, bislang aber als vermeintlich weniger gesundheitsschädlich daherkommenden und materiell doch vollkommen andersartigen E-Zigarette transformiert?“

Letztendlich bestimmen die Konsumenten, wohin die Reise geht, denn sie haben die Freiheit, zu entscheiden.

 

[1] Gerulf Hirt und Christoph Alten, Stefan Knopf, Dirk Schindelbeck, Sandra Schürmann (2017): Als die Zigarette giftig wurde. Ein Risiko-Produkt im Widerstreit. S. 175 ff