Und? Heute schon für den Wohlverhaltenswert gepunktet?
Über manche Dinge wundern wir uns (Jennifer Lopez raucht in ihrem aktuellen Musikvideo? Ist das noch erlaubt?), aber wirkliche Aufreger sind es nicht (mehr). Viele Sachen ärgern uns (Waaas? Benzin ist schon wieder teurer? Wieso denn?), aber ändern können wir sie nicht. Als uns jedoch letzte Woche dieses Video aus China erreichte, mussten wir uns die Augen reiben und zweimal hinsehen bzw. ‑hören. Aufreger Deluxe, könnte man sagen.
Was war da los?
„Please follow the relevant regulations”
Journalist und Autor James O'Malley hatte auf Twitter einen kurzen Clip aus einem chinesischen Schnellzug veröffentlicht. Eine freundliche Frauenstimme warnt in einer Durchsage die Passagiere auf einer Bahnstrecke zwischen Peking und Schanghai davor, ohne Ticket zu fahren, sich auffällig zu verhalten oder in öffentlichen Räumen zu rauchen. Wer dies tue, würde bestraft werden, und zwar mit einem negativen Eintrag in das „Social Credit System“. Wer das vermeiden wolle, der solle sich an die Regeln halten und sich „gut“ benehmen. Ende der Durchsage. Schluck.
Das chinesische Social Credit System
Seit einigen Jahren testet die chinesische Staatsregierung in rund einem Dutzend Regionen des Landes das sogenannte „Social Credit System“. So wie Onlineshops wissen, wofür sich ihre Nutzer interessieren und was sie als Nächstes kaufen könnten, will der chinesische Staat aus den Datenspuren seiner Bürger ableiten, wie sie sich in der Vergangenheit verhalten haben, sich in der Zukunft verhalten könnten und sie nach einem Punktesystem entsprechend bewerten. Basierend auf Einträgen in Strafakten, Kundenprofilen bei Unternehmen, Kreditkartenabrechnungen, Steuerbescheiden aber wohl auch Social-Media-Kanälen und Bankregistern – was alles einfließt, ist weitestgehend geheim – wird durch Formeln und Algorithmen ein ganz persönlicher Wohlverhaltenswert für jeden einzelnen Bürger berechnet.
Besser Biogemüse statt Ballerspiele
Wer ab 2020 in China bei Rot die Straße überquert oder zu viel Zeit mit Computerspielen verbringt, hat nichts mehr zu lachen. Dann nämlich soll das staatliche Bewertungssystem in Kraft treten. Ein Beispiel verdeutlicht die staatliche Einflussnahme in persönliche Lebensstile: „Wer zehn Stunden am Tag vor dem Rechner sitzt und Videospiele spielt, dürfte nicht gerade sehr agil sein“, sagt Li Yingyun, Mitarbeiterin bei Sesame Credit, einem eigenen Bewertungsdienst von Alibaba. Wer hingegen häufig Biogemüse online bestelle, zeige Verantwortung und Gesundheitsbewusstsein. Zur Belohnung gibt es verbilligte Flugreisen und andere Vergünstigungen. Nach eigenen Angaben stellt das Unternehmen die Daten bereits Behörden und Banken zur Verfügung.
Next Level der staatlichen Regulierung?
Klar, dass die sozialen Medien unsere Daten abgreifen, und die Sache mit der personalisierten Werbung wissen wir mittlerweile alle. Alter Hut, schockt niemanden mehr wirklich. Das von James O´Malley veröffentlichte Video jedoch hebt die Diskussion und das Bewusstsein um staatliche Kontrolle und Einflussnahme auf ein neues Level. Wie frei können wir wirklich in Zukunft noch leben? Und vor allem: Was können wir tun, um uns persönliche Freiheiten zu bewahren?
Zu viele Informationen wirken täglich auf uns ein. Möglicherweise nehmen es manche Menschen gar nicht mehr wahr, was um sie herum geschieht und welche Bedeutung der Inhalt des Videos eigentlich hat O´Malley hat am Tag, nachdem er das Video veröffentlicht hat, getwittert: „Most depressing part about having an Unexpected [sic] Viral Smash Hit is the not-insignificant number of people saying ‘Hey what’s wrong with that?’”
Sinngemäß übersetzt: „Das Deprimierendste an dem unerwarteten viralen Smash Hit ist die nicht unerhebliche Anzahl der Leute, die sagen: ,Wieso? Was ist daran falsch?‘“
Ihre,
Doreen Neuendorf