Freiheitsindex: Subjektives Freiheitsempfinden auf Rekordtief
Noch zu Zeiten des geteilten Deutschlands, 1987, sang Marius Müller-Westernhagen: „Freiheit, Freiheit – ist das einzige was zählt“. Damit brachte der Musiker und Schauspieler das Lebensgefühl zahlreicher Menschen in Ost und West auf den Punkt. Und kurz darauf war sie da, die große Freiheit. Doch nicht jede*r in Ost und West kam damit auf Anhieb wirklich klar. Und heute?
Aktuelle Erkenntnisse bietet der „Freiheitsindex“, eine Analyse des Insituts für Demoskopie Allensbach und des Umfrageinstituts Media Tenor. Eine der ernüchternden Kernaussagen: Die Wahrnehmung subjektiver Freiheit ist in Deutschland stark geschwunden. Auf die Frage „Wie empfinden Sie Ihr gegenwärtiges Leben, fühlen Sie sich frei oder unfrei?“ antworteten nur 36 Prozent der Teilnehmer*innen mit „sehr frei“. Das ist der tiefste Wert seit 2005, vor vier Jahren lag er noch bei 51 Prozent. Und zum ersten Mal seit 1953 sind nur noch 45 Prozent der Menschen in Deutschland, und damit weniger als die Hälfte der Befragten, davon überzeugt, man könne in Deutschland seine politische Meinung frei äußern.
Staat entscheidet immer mehr, was gut und richtig ist
Zugleich erstaunt es, wie wenig die Zahl etwa staatlicher Regulierungen mit dem wahrgenommenen Freiheitsgefühl kollidiert. Allein in der 19. Wahlperiode (bis 01.09.2021) verabschiedete der Bundestag zum Beispiel 546 Gesetzesinitiativen. Das sind stolze 146 mehr als noch der 15. Bundestag, aber immerhin ein paar weniger als der 18. Bundestag. Zwei Gründe dürften dafür ausschlaggebend sein: So ist es wahrscheinlich, dass immer häufiger gerade junge Menschen mit den Auswirkungen globaler Krisen (Klima, Corona) überfordert sind und nach dem Staat rufen. Und: Nicht immer werden Einschränkungen der persönlichen Freiheit auch als solche empfunden. So stupst der Staat behutsam seine Bürger*innen zunehmend in Richtungen, die die Politik für „richtig“ hält. Statt etwas vorzuschreiben, und damit womöglich Widerstand zu wecken, wird die Methode des „libertären Paternalismus“ eingesetzt. Das Problem dabei: Der Staat entscheidet, was für seine Bürger*innen gut und richtig ist.
Vorsicht, Nudging!
Die Kritik gegenüber dem sogenannten "Nudging", also dem auf Vernunft setzenden Anstupsen des Bürgers in eine als richtig gewertete Richtung, reicht vom Vorwurf der Bevormundung der Bürger in privaten Angelegenheiten bis hin zur mutmaßlichen Ausübung von Zwang. Und der Schritt vom relativ behutsamen Anleiten (z. B. Warnhinweise auf Zigarettenschachteln) hin zu paternalistischen Vorschriften (z. B. umfassende Rauchverbote) ist klein. Manchmal mag es funktionieren, etwa wenn Obst in Kantinen so platziert wird, dass die Gäste lieber nach den Früchten greifen als nach Donuts und Muffins. Oder wenn Toiletten ungleich sauberer bleiben, weil das Bild einer Fliege ins Urinal gedruckt wird. Doch schon 2014 warnten die Wissenschaftler Lisa Bruttel und Florian Stolley in ihrem Essay „Nudging als politisches Instrument – gute Absicht oder staatlicher Übergriff?“ vor einer Manipulation durch Regierung und Behörden.
Freiheitsempfinden entlang des Parteienspektrums
Eine gewisse Skepsis gegenüber dem Staat ist also grundsätzlich vorhanden. Aber mit Blick auf den "Freiheitsindex" von Allensbach und Media Tenor wird auch deutlich, wie unterschiedlich die Anhänger*innen der politischen Parteien den Grad ihrer persönlichen Freiheit sehen. Dem Statement „Der Staat, das sind wir alle. Es liegt an uns Bürgern, wie sich Deutschland entwickelt“ stimmten zwar fast 62 Prozent der Wähler*innen von Bündnis 90/Die Grünen zu, aber nur 18,5 Prozent der AfD-Anhänger*innen. Eher kritisch sehen auch Unterstützer*innen der Linkspartei (34,2 Prozent) und der FDP (38,5 Prozent) diese Aussage, während bei SPD und CDU/CSU die Zustimmung jeweils um 50 Prozent lag. Immerhin: Erstmals seit 1990 bewertet eine relative Mehrheit den eigenen Einfluss auf das (politische) Geschehen positiv. Besonders stark war die Zustimmung zu der Aussage „Jeder ist seines Glückes Schmied“ bei Anhänger*innen von CDU/CSU (55,4 Prozent), Bündnis 90/Die Grünen (51,9 Prozent) und FDP (50,1 Prozent). Am skeptischsten waren hier die Wähler*innen der Linkspartei (25,8 Prozent).
Missverständnisse und Spaltung überwinden
Bleibt die Frage, welche Lehre sich aus den Erkenntnissen des "Freiheitsindex" ableiten lässt. Vielleicht ist es die Ermutigung, den Entzug von Freiheiten nicht stumm und brav hinzunehmen und zugleich Vorgaben und Empfehlungen durchaus kritisch zu hinterfragen. Aber Achtung: Nicht immer lässt sich die Vorstellung von der eigenen Freiheit mit der eines anderen in Deckung bringen. Das mag gelegentlich bei Rauchern und Nichtrauchern so sein. Noch deutlicher ist es in der aktuellen Situation mit Blick auf die Covid-19-Impfungen. Die Devise muss daher lauten: Missverständnisse und Spaltung überwinden! Denn wie sang Marius Müller-Westernhagen weiter: „Alle, die von Freiheit träumen, sollen ’s Feiern nicht versäumen.“ Am besten mit Rücksicht aufeinander und gemeinsam.