Mehrwegbecher, E‑Skateboard und Co. – wie neue Phänomene erst schocken und dann in den Alltag übergehen.
Vor hundert Jahren staunten die Menschen über die ersten Benzin-Zapfsäulen, die plötzlich überall in den Städten auftauchten. Sie wunderten sich über die ersten Ampeln, die ersten Feuerzeuge und die ersten Armbanduhren. Später gewöhnten sie sich an Einkaufswagen, Turnschuhe im Büro und Warentrenner auf dem Supermarkt-Förderband. Dann kamen Fahrradkuriertasche, Rollkoffer und, ach ja, das Smartphone …
Das Muster hat jeder schon erlebt: Oft sehen wir in unserem Alltag, auf dem Weg ins Büro oder zum Einkaufen, etwas Neues. Vor einigen Jahren hätte das etwa ein Mann mit einem Pappbecher samt praktisch geformtem Plastikdeckel sein können, der über die Straße eilt und einen Double Decaf mit Sojamilch trinkt. Seltsamer Trend, hätten wir gedacht, um uns kurz darauf an den Becher zu erinnern, als er in einer US-Serie wiederauftauchte. Am nächsten Tag fielen uns dann schon drei Menschen auf, die mit Coffee-Cups zur Arbeit hetzten. Und schließlich kauften wir uns selber einen.
Die Requisiten des Alltags sind ein Teil der Welt um uns herum – mal für längere Zeit, mal für kürzere. Manchmal verschwinden sie sogar, um nach Jahren wieder aufzutauchen. Keiner hätte etwa jemals gedacht, dass das alte Klapprad noch mal eine Renaissance erfährt. Wieso es wichtig ist, über die aktuellen Phänomene zu sprechen, statt sie zu ignorieren? Sie sagen mehr aus über unsere Gesellschaft als so manche Trendstudie oder Wirtschaftsprognose. Hier die zurzeit wichtigsten:
Der Mehrweg-ToGo-Kaffeebecher
Der gerade beschriebene Coffee Cup wirkte erst ganz cool. Er stand für Schnelligkeit, Effektivität, Einfallsreichtum (der patentierte Buckeldeckel aus Plastik schafft Platz für den Milchschaum). Aus Seattle und New York landete er bei uns und vermittelte ein Gefühl von Weltläufigkeit und Modernität. Irgendwann dämmerte es uns aber, dass es keine gute Idee ist, jährlich 2,8 Milliarden Pappbecher mit Plastikverschluss in die Mülltonne zu werfen. So viel sollen Deutsche jedenfalls nach Berechnungen der Deutschen Umwelthilfe jedes Jahr konsumieren und entsorgen.
Der wiederverwendbare ToGo-Kaffeebecher wurde geboren. An vielen Kaffeebetankungsstationen, vom Coffeeshop bis zur Tankstelle, kann man ihn inzwischen befüllen lassen und bekommt manchmal sogar dafür einen Preisnachlass von 10 bis 30 Cents. In Hamburg läuft die „Kehr.Wieder-Kampagne“ – in 256 Cafés und Geschäften gibt es Nachlässe bei der Nutzung der Becher.
Die Aktionen haben für Vielfalt auf der Straße gesorgt: Jetzt sehen wir Kaffeetrinker auf der Straße mit grünen „Recup“-Bechern, Kunstobjekte mit Aufdrucken wie „Darling, it's Coffee o'clock“ oder schönen weißen Rosenthal-Bechern. Wie lange der Trend anhält, ist nicht sicher, feststeht: Der Mehrweg-Kaffeebecher ist eines der markantesten Alltagsrequisiten des Jahres.
Der Kampf zwischen Wegwerfbecher und Re-use-Cup steht dabei für unsere innere Zerrissenheit. In uns fordert der Hang zu Luxus, Genuss und Verschwendung Tribut. Dagegen kämpfen Vernunft, Umweltbewusstsein und Sparsamkeit.
Warnwesten
Ältere werden sich erinnern: Die grellen Reflektorwesten trugen früher nur Bauarbeiter, Müllmänner und höchstens noch Polizisten bei einer Unfallabsperrung. Doch der 1. Juli 2014 hat alles geändert. Seitdem herrscht in Deutschland die allgemeine Warnwestenpflicht. In jedem Auto muss eine Weste in gelb, orange oder rot vorhanden sein. Das finden wir gut und haben es auch verstanden. Nicht verstanden haben wir, wieso seitdem auf jedem Spielplatz der kleine Yannik oder die kleine Zoe eine XS-Sicherheitsweste tragen muss, wenn er oder sie die Kletterwand hochkraxelt. Auch Radfahrer, die mit ihren E-Bikes auf der Pendelstrecke zur Arbeit jeden Motorroller hinter sich lassen, nutzen seitdem die Weste. Sie ist von einer Spezialausrüstung für Profis zu einer der am meisten verbreiteten Alltagsrequisiten unserer Zeit geworden.
Was das bedeutet? Die täglichen Nachrichten über Umbrüche in unserer Gesellschaft lassen uns nach Sicherheit suchen, auch wenn sich in unserer eigenen Welt vielleicht gar nicht so viel ändert. Wir wollen uns so gut wie möglich für alle Schwierigkeiten rüsten – und sei es nur auf dem Spielplatz oder auf dem Weg zur Arbeit.
Ladestationen für E-Cars
Die ersten haben wir uns noch verwundert angeguckt und über die verwaisten Plätze davor den Kopf geschüttelt. Dann tauchten immer mehr Ladesäulen für Elektroautos auf. 10.300 davon gibt es mittlerweile in Deutschland. Interessant an dem Phänomen: Schon vor hundert Jahren, als die ersten Benzinautos durch die Straßen tuckerten, standen Tanksäulen direkt vor Apotheken und Geschäften. Später wurden ihre Speichertanks größer und die Tankstellen zogen in die Randbezirke. Jetzt sind die Zapfsäulen zurück im Stadtbild, mit Strom statt Sprit. Und es werden mit Sicherheit noch mehr werden. Ein Stadtmöbel mit Zukunft. Die Ladesäulen zeigen uns einen Hoffnungsschimmer: Die Menschen haben verstanden, dass sie umweltbewusster leben müssen. Die oftmals leeren Stationen verraten aber auch: Manchmal dauert es etwas länger, bis sich neue Dinge durchsetzen.
E-Zigaretten
Knapp vier Millionen Menschen in Deutschland sollen sie inzwischen bereits nutzen, viele von ihnen sehen sie als gesündere Alternative zur herkömmlichen Zigarette. In den ersten Jahren nach ihrer Erfindung und Marktreife sah man nur vereinzelt auf einer Party oder einem Freiluftkonzert E-Zigarettennutzer. Heute gehören sie zum Alltag. Und sorgen mit dafür, das ein anderes Requisit des Alltags vielleicht irgendwann ums Überleben kämpft: der Aschenbecher.
E-Zigaretten korrespondieren perfekt mit dem gesteigerten Hang zur Selbstoptimierung, der in den letzten Jahren erst durch klassische Medien, dann durch Influencer und digitale Meinungsmacher groß gemacht wurde. Das Ausschalten vieler gesundheitsschädlicher Aspekte der Zigarette ist typisch für eine Zeit, die Kontrolle über alle Aspekte des Lebens in den Vordergrund stellt.
Elektro-Skateboards
Sie sehen aus wie ein normales Skateboard, aber sie brauchen nicht das energische Abstoßen vom Straßenbelag, wie es Marty McFly in „Zurück in die Zukunft“ so elegant beherrschte. E-Skateboards werden über eine Fernsteuerung in der Hand oder eine App angesprochen und per Körperbewegung gelenkt. Sie rasen oft auf Gehwegen durch Berlin, Hamburg, München und inzwischen fast alle größeren Städte. Anders als das benzinbetriebene MotoBoard, das sich nie durchsetzen konnte, ist das elektrische Skateboard, das wohl schnellste Alltagsrequisit dieser Übersicht, im Vormarsch. Im öffentlichen Straßenverkehr ist die Nutzung inzwischen untersagt, doch eine klare Regelung über E-Skateboards auf Geh-, Park- oder Waldwegen gibt es nicht.
Es sind die „Early Adopters“, die sie nutzen. Menschen, die neue Technologien als Erste zum Einsatz bringen – manchmal einfach, weil es mehr Spaß macht als Sinn ergibt. Sie werden eine Randgruppe bleiben, eher Hipstern zugeordnet als dem Mainstream. Trotzdem stehen sie symbolisch für eine fundamentale Neuordnung unseres Verkehrsverhaltens durch E-Bikes, E-Cars, smarte Navigationssysteme, Lastenfahrräder und autonomes Fahren.
Die Liste der neuen Alltagsrequisiten lässt sich beliebig verlängern ... und ändert sich ständig. Noch stehen Fitness-Armbänder für die Digitalisierung und neue Messbarkeit unseres gesamten Lebens. Werden es bald implantierte Mess-Chips sein? Weitere Kandidaten wie smarte Lautsprecher, Paketdrohnen und Flugtaxis (wir freuen uns drauf!) haben das Zeug zur nächsten Requisiten-Generation.
So schnell die Alltagsgegenstände übrigens auftauchen, so schnell können sie auch wieder verschwinden. Oder wer kann sich noch erinnern an Teppichklopfer, Telefonzellen, Brieföffner, Mixtapes , Walkmen, Blitzwürfel, Hutständer, Wählscheibentelefone oder Parkuhren?