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26.10.2017

War­um Regulierung rück­sichts­los macht

Ich hätte nie gedacht, dass ich mir um eine Rettungsgasse jemals wieder Gedanken machen müsste. In der Fahrschule waren das damals vielleicht zehn Minuten, die man dafür aufgewendet hat. Maximal. Das Thema schien so selbstverständlich, wie man für eine ältere Dame im Bus aufsteht oder ein Kind an gefährlichen Stellen an die Hand nimmt. Erklärt. Für sinnvoll erachtet. Fertig. Nie wieder drüber nachgedacht.

30 Jahre später ist die Rettungsgasse plötzlich ein Thema auf Ministerebene.
Bitter. Endzeit-Blockbuster aus Hollywood scheinen in unseren Städten Wirklichkeit zu werden: Feuerwehr und Rettungskräfte werden bei Einsätzen bewusst behindert. In Köln wurden einem Einsatzwagen des Roten Kreuzes während der Lebensrettung auf der Domplatte die Reifen zerstochen. Anderswo werden Helfer bespuckt, beschimpft und bedroht.

In Florida filmten Jugendliche einen Mann beim Ertrinken, machten noch Bemerkungen dazu, die sie für spaßig hielten und stellten das Video dann ins Netz. „Unterlassene Hilfeleistung“ ist dort keine Straftat. Florida ist weit weg?
Nein, Florida liegt in Baden-Baden. Dort haben Schaulustige einen lebensmüden Mann, der sich vom Dach zu stürzen drohte, mit ihren Mobiltelefonen in der Hand noch zum Sprung aufgefordert.

Da steht er nun und zögert noch
Die Menschen strömen gleich zuhauf
Auch ich lass mir das nicht entgehen
Das will ich aus der Nähe sehen
Ich stell mich in die erste Reihe
Und schreie (…)
SPRING!

Zwölf Jahre früher hatten Rammstein auf ihrem Album Rosenrot das Szenario noch als Kunstform fiktiv besungen. TV-Kameraleute, die von schweren Unglücken berichten und dort ihre Bilder drehen, können es bestätigen: Durch den Kamerasucher wird aus einem „sterbenden Menschen“ nur ein „Video von einem sterbenden Menschen“. Das schafft Distanz. Videos sterbender Menschen sehen wir täglich in den Nachrichten. Aus der Distanz. Was wir brauchen, ist Nähe.

„Soziale Medien“ sind oft asozial

Sogenannte „soziale Medien“, die sich nicht selten als asoziale Kommunikationsplattformen entpuppen, gaukeln Nähe nur vor. Sicher: Man hält locker Kontakt zu alten Schulfreunden, Ex-Kollegen und Mitgliedern des eigenen Vereins oder Interessengruppen. Doch für eine Gesellschaft, die über Kommunikation funktioniert, ist das passive Kommunizieren (Posten und auf Reaktionen warten) langfristig tödlich. Warum jemandem das Leben retten, wenn es anschließend dafür keine Likes gibt? Dann doch lieber ein Video drehen. Unfassbar.

Klar, jede Gesellschaft hat Defizite. Und es ist auch die Aufgabe des Staates, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass diese Defizite im Rahmen bleiben. Es ist aber nicht seine Aufgabe, nach und nach alle Defizite abzuschaffen. Eine freie Gesellschaft braucht Restrisiken, insbesondere im Privatleben, sonst ist sie nicht frei.

Das mag zunächst paradox klingen, aber das Restrisiko im Privaten ist Bestandteil der Freiheit. Aufklärung dient der Demokratie. Freier Zugang zu allen Informationen ist der Garant für eine kontroverse Diskussion. Das müssen wir lernen auszuhalten. In der Gesellschaft. In der Politik. Und auch in der Industrie, wenn die dort hergestellten Produkte hinterfragt werden.

Staat widerspricht sich selbst

In eigener Sache argumentiert der Staat selbst mit den Restrisiken. Nicht nur bei der Atomkraft oder dem Schutz vor Terror. Beispielsweise, wenn es um die Wiedereingliederung von extrem problematischen Straftätern geht. Es mag funktionieren – aber immer wieder ist einer dabei, bei dem es nicht funktioniert. Wenn der Staat die These vertritt, dass der Mensch grundsätzlich eine zweite Chance verdient, wenn seine Prognosen positiv sind – dann muss eine freie Gesellschaft das Restrisiko tragen. Das kann man gut finden oder nicht, aber so ist die Situation.

Natürlich gibt es viele Dinge, die man aus guter Absicht reglementieren könnte.
Ein Mitarbeiter aus einer Drogenberatung hat mir im Interview einmal über einen Heroinkonsumenten gesagt: „Jeder Mensch hat das Recht auf einen riskanten Lebensstil“. Das musste ich erst einmal verdauen. Der Staat stellt den Handel und die Herstellung unter Strafe – den Eigenkonsum jedoch nicht. Der Konsument wird also für den Rausch alleine nicht bestraft.

Ich fahre seit über 20 Jahren Motorrad. Unfallfrei. Ich habe mich – trotz aller vernünftigen Gegenargumente – dafür entschieden. Durch meine Fahrweise versuche ich das Risiko zu minimieren. Meine ich. Wenn ich verunglücken sollte, muss die Allgemeinheit für meine Pflegekosten aufkommen. Sie trägt mein Restrisiko. Das Gleiche gilt für den Paraglider, Freeclimber oder Downhill-Mountainbiker, der extreme Touren fährt. Es gilt für den Leistungssportler, der sich dauernd irgendwelche Sehnen abreißt, von denen der Sportmuffel noch nie gehört hat oder denjenigen, der sich für Risikoberufe wie Polizist oder Feuerwehrmann entscheidet.

Wir müssen uns nur der Risiken bewusst sein und verantwortungsvoll damit umgehen. Wenn der Staat uns diese Aufgabe abnimmt, dann wird das Volk träge. Der Staat wird es schon richten. Und wenn der Staat einmal damit anfängt, merkt er, wo er überall noch Risiken minimieren muss. Wenn der Staat meint, jedes gesellschaftliche Problem lösen zu müssen und es auch zu können, läuft er Gefahr, jegliche selbstständige Entwicklung zu ersticken. Auch positive.

Zu viel Regulierung macht dumm

Immer strengere Regulierung sorgt dafür, dass der gesunde Menschenverstand langfristig abnimmt. Wie ein Muskel, der nicht trainiert wird. Wenn wir unseren Kindern lebenslang die Brote schmieren, lernen sie nie, mit einem Messer umzugehen. Und wenn wir als Bürger vom Staat immer mehr gesagt bekommen, was wir in der privaten Lebensführung dürfen und was nicht, dann werden wir entmündigt.

Wo soll so noch Rücksicht entstehen? Rücksicht entsteht aus gesellschaftlichen Werten und gesundem Menschenverstand. Gesellschaftliche Werte wandeln sich. Das ist auch richtig, denn sonst entwickelt eine Gesellschaft sich nicht weiter. Die Gesellschaft hat die Chance, sensibler zu werden – die sollten wir ihr nicht nehmen, indem wir ihr vorschreiben, wo sie es zu sein hat und wo nicht.

Mir ist es lieber, wir führen einen – meinetwegen auch schmerzhaften, unbequemen und langwierigen – Diskurs, als dass mir jemand vorschreibt, wie mein Idealgewicht sein soll, wie viel Fleisch oder Gemüse ich essen soll oder ob ich (maßvoll) Alkohol zu mir nehmen darf oder nicht. Ja, ich zahle auch für die Leberzirrhosen anderer, möchte aber weiter die Freiheit haben, mich mit einem Glas Rotwein zum Sonnenuntergang in einen Park setzen zu dürfen, ohne eine braune Papiertüte darum zu wickeln oder gegen Gesetze und Verordnungen zu verstoßen.

Ja, das in die Mode gekommene Wegebier stört auch mich. Überall läuft in der Großstadt jemand mit einer Bierflasche herum. Das war früher gefühlt anders. Wenn wir früher mit einer Flasche Bier durch die Stadt gingen, war entweder Karneval oder es gab von den Eltern anschließend etwas hinter die Ohren (wörtlich!). Aber ich möchte nicht, dass der Staat das reguliert. Ich hoffe darauf, dass die Gesellschaft sich wieder auf Manieren besinnt in dieser Frage – oder ich muss akzeptieren, dass ich in diesem Punkt halt von vorgestern bin. Über 50 Jahre alt – da kann es passieren, von vorgestern zu sein.

Regulierung führt definitiv zu mehr Rücksichtslosigkeit. Entweder sind es die, die nach Regulierung schreien, die keine Rücksicht mehr auf andere nehmen möchten (dass jemand z. B. sein Wegebier trinkt), oder die, die noch nicht reguliert werden, verhalten sich deshalb rücksichtsloser.

Der Mensch muss Fehler machen dürfen

Denn da, wo noch nichts reguliert erscheint, sucht sich die Gesellschaft ihr Ventil. Das führt zu Überreaktionen an anderer Stelle, die wiederum reguliert werden müssen. Eine Spirale, die niemals enden wird. So wird aus scheinbar guter Absicht, mit Regulierung für mehr Rücksicht zu sorgen, genau das Gegenteil. Demokratie wandelt sich ins Totalitäre.

Gesellschaften brauchen Ventile. Das ist ein Naturgesetz. Wie bei einem Fluss. Wenn man das Flussbett versperrt, sucht sich das Wasser einen anderen Weg. Es braucht Massenveranstaltungen mit der Gefahr auf Hörschäden, um Dampf abzulassen (z. B. Wacken Open Air). In den Gesellschaften kommt es immer wieder zu Gewalt (auch wenn wir gegen Krieg sind – die Weltpolitik belehrt uns in der Wirklichkeit eines Besseren), und es braucht auch freien Zugang zu ungesunder Nahrung, weil uns einfach nach Fett und Kohlehydraten ist. Solange uns die Information über die möglichen Folgen und Risiken fair und transparent zu Verfügung steht. Und jedem steht es frei, bei Rockkonzerten Ohrpfropfen zu tragen – oder nicht.

Gestern hatte ich ein Werbeschild meiner Firma aus Plexiglas dummerweise hinter die Sonnenblende auf der Beifahrerseite geklemmt. Es fiel während der Fahrt runter und mit einer scharfen Kante genau auf eine PET-Sprudelflasche, die auf dem Beifahrersitz lag. Das Sprudelwasser schoss nur so aus der Flasche in den Innenraum meines Autos – bei 160 auf der linken Spur. Nichts passiert – wäre aber eine interessante Unfallaussage geworden. Angesiedelt zwischen Gedankenlosigkeit und absoluter Dummheit. Keine Aktion, auf die ich als erfahrener Autofahrer stolz bin. Aber ich habe daraus gelernt.

Eine staatliche Richtlinie, nur DIN-A5-große „Dinge“ aus Papier bis 80 Gramm/m² hinter die Sonnenblende klemmen zu dürfen, hätte das natürlich verhindern können. Vielleicht gibt es diese Regulierungs-Richtlinie auch schon. Ich habe es nicht nachrecherchiert.

Die Frage ist: Habe ich nun etwas gelernt oder verlasse ich mich darauf, dass mir jetzt auch noch jemand erklärt, dass man ein Glas Wasser für den Transport von der Küche bis zum Wohnzimmer nur zu 68 % befüllen sollte, damit das Risiko des Schlabberns um 150 % minimiert wird?

Vorsicht vor denen, die alles perfekt haben wollen

„Hab keine Angst vor der Perfektion – du wirst sie nie erreichen“, hat Salvador Dalí einmal gesagt. Ich habe Angst vor denen, die es dennoch ständig versuchen und meinen, das exekutive Mandat dafür zu haben. Denn im Grunde wird eine Gesellschaft dadurch unzufriedener: Wir alle sind irgendwo in unseren Lebensbereichen bereits teil-reguliert. Das führt unbewusst und bewusst auch zu Politikverdrossenheit. Entweder fühlen wir uns zu stark reguliert oder wir schauen auf diejenigen, die unserer Ansicht nach noch nicht reguliert genug sind.

Fazit: Regulierung macht träge für selbstständiges Denken. Nehmen wir die ältere Dame im Bus, die sich stehend kaum auf den Beinen halten kann während der Fahrt. Früher brauchte es etwas gesunden Menschenverstand und etwas Elternhaus – dann war für die Dame das Problem gelöst.

Heute braucht es eine vorgeschriebene Mindestzahl an für „Gebrechliche“ frei zu machenden Sitzen, die klar per Aufkleber und Beförderungsverordnung definiert ist. Und da, wo ein Kinderwagen abgebildet ist, kommt niemand auf die Idee, für jemanden mit Rollator aufzustehen. Und noch besser: Sind diese Plätze alle mit älteren Menschen besetzt, steht bei den anderen Plätzen schon niemand mehr auf. Die sind ja nicht reguliert. Schade. Etwas mehr Selbstständigkeit im Denken wäre gesellschaftlich gesehen wohl besser.